Interview

Zwei Welten im Schlagabtausch

Mit Christoph Boschan und Markus Marterbauer prallen in Sachen Kapitalmarkt zwei konträre Weltanschauungen aufeinander. Wie ein Aufeinanderzugehen aussehen könnte, hat der Börsianer mit dem Chef der Wiener Börse und dem ­Finanzminister anhand der Themen ­Pensionssystem, Standortpolitik und Kapitalmarktreform diskutiert. Zumindest zugehört haben sie einander. Das Interview erschien im Börsianer Magazin am 7. Juli 2025.

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07.07.2025

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Christoph Boschan und Markus Marterbauer hatten viel zu bereden. Der Börisaner achtete darauf, dass nicht aneinander vorbeidiskutiert wurde.

Sowohl Markus Marterbauer als auch Christoph Boschan gehören jenem privilegierten Teil der Bevölkerung an, der neben der staatlichen Pension über eine Zusatzpension in Form der betrieblichen Altersvorsorge verfügt. Derzeit können darauf erst 23 Prozent der Arbeitnehmer in Österreich zugreifen. Dieser Diskriminierung schenkt der Finanzminister zumindest Beachtung, die betriebliche Pension „könnte man durchaus weiter ausbauen“, sagt er im Doppelinterview mit Börsenchef Boschan im Finanzministerium in Wien. Steuerliche Anreize jeglicher Art werden laut Marterbauer überschätzt, dafür werde „es kein Geld geben“. Er wünscht sich zwar mehr Spielraum fürs Budget, der vom Börsenchef angesprochenen Reform des teuren Pensionsumlageverfahrens in Österreich steht er aber „skeptisch“ gegenüber – ein Wort, das Marterbauer oft benutzt. Was der Standort dringend benötigt, wie die Regulierungsbremse aussieht und warum Politiker auch dringend Finanzbildung brauchen.

Was verstehen Sie unter dem Begriff „Kapitalmarkt“? Markus Marterbauer: Der Kapitalmarkt ist wichtig, vor allem, um Investitionen zu finanzieren, und damit von ökonomisch großer Relevanz. Aber, er ist, wenn nicht gut reguliert, eine Quelle der ökonomischen Instabilität.

Christoph Boschan: Der Kapitalmarkt umfasst eine kapitalanbietende und eine kapitalnachfragende Seite und ist eine der Basiskonstruktionen für unsere Wirtschaftsordnung.

Wieso, denken Sie, hat der Kapitalmarkt in der Öffentlichkeit einen­ so schlechten Ruf? – Marterbauer: Der Ruf ist gar nicht schlecht. Wenn man ihn richtig einsetzt, ist der Kapitalmarkt ein wichtiges In­strument. Gefährlich wird es, wenn der Kapitalmarkt zu groß wird oder die Real­wirtschaft zu stark dominiert.

Im Regierungsprogramm kommt das Wort „Kapitalmarkt“ in homöopathischen Dosen vor, etwa im Zuge des geplanten Dachfonds, der schon unter Minister Martin Kocher angestoßen wurde. Gibt es da schon Zahlen dazu? – Marterbauer: Wir haben noch keine Pläne in diese Richtung. Also insbesondere von unserem Haus noch nicht. Wir waren jetzt mit der Budgetkonsolidierung voll ausgelastet. Und ab jetzt widmen wir uns anderen Themen.

Sie bekennen sich zu einer europäischen Kapitalmarktunion, das steht dort auch. Was heißt das genau? Bis jetzt gibt es nur zahlreiche Überschriften. – Marterbauer: Auch die europäische Kapitalmarkt­union ist eine Überschrift. Ich stehe dem Projekt grundsätzlich positiv gegenüber. Ich erwarte von der Savings-und-Investment-Union auch mehr Wettbewerb auf den europäischen Kapitalmärkten. Das halte ich für grundsätzlich sinnvoll. Wenn sich die Aufsicht entsprechend mitentwickelt. Das wird uns über Jahre beschäftigen.

Die beschäftigt uns auch schon sehr viele Jahre. – Boschan: Keine der in der Spar-und-Investitions-Union angedachten Maßnahmen ist grundsätzlich falsch. Die Überschrift verspricht Großes. Das klingt nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit, nach aktiviertem Kapitalmarkt. Und das ist es eben gerade nicht. Keine der Maßnahmen wird substanziell den europäischen Kapitalmarkt entwickeln. Und das adressieren auch die Papiere zur Kapitalmarktunion selbst. Deswegen ist das zu so einem parteiübergreifenden Wohlfühl-Buzzword geworden. Es sind die Nationalstaaten, die aufgefordert werden, ihrerseits Maßnahmen zu setzen, um relevante Kapitalsammelstellen bereitzustellen.

Marterbauer: Europa wird in den nächsten Jahrzehnten einen enorm hohen Investitionsbedarf haben. Und wir wissen, bei jeder Investition braucht man Finanzierungsquellen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Unter anderem aus dem Kapitalmarkt. Aber nicht nur. Auch aus dem EU-Budget oder Verschuldungsmöglichkeiten in anderen Bereichen. Wir haben einen so riesigen Investitionsbedarf, dass wir alle Quellen brauchen.

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Robert Winter und Ingrid Krawarik vom Börsianer im Gespräch mit Markus Marterbauer und Christoph Boschan.

Sind Euro-Bonds eine gute Idee, um mehr Kapital zu mobilisieren? – Marterbauer: Grundsätzlich, glaube ich, ja. Wir brauchen insgesamt mehr Anleihen, die in Euro denominiert sind. Aktuell wird gerade nach Veranlagungsmöglichkeiten in Euro gesucht, das sollten wir auf jeden Fall nutzen. Mit dem Aufbauresilienzfonds wurde ein großer Fortschritt erzielt. Da haben wir ein Element der europäischen Verschuldung, und ich habe das für einen großen Fortschritt gehalten, diese 700 oder 800 Milliarden waren enorm wertvoll nach der Covid-Krise.

Im Draghi-Report steht, dass man auch privates Kapital für die Investitionen braucht. Wie könnte Österreich mithelfen, privates Kapital zu mobilisieren? – Marterbauer: Es braucht einen Mix aus öffentlichem und privatem Kapital. Ich bin recht skeptisch, wenn Incentivierung bedeutet, dass man aus den Budgets jetzt sehr viel beisteuern will. Einerseits kann ich immer sagen, ich habe das Geld nicht, Ende der Durchsage. Wir haben eine Budgetsituation, die uns keinen Spielraum ermöglicht. Andererseits wird völlig überschätzt, dass man irgendwelche steuerlichen Anreize brauchen würde, um irgendwas zu tun.

Boschan: Na ja, es gibt kein anderes Geld als privates Geld. Das vermeintlich staatliche Geld ist alles nur eine Ableitung von privatem Geld. Die Finanzierung erfolgt über Staatsschulden oder über Steuern. Als originäre Quelle steht immer die private Vermögensmasse dahinter. Es sind nicht nur die zukünftigen dramatischen Herausforderungen einer Transition in die CO2-freie Zukunft oder der Verteidigung zu bewältigen. Bestehende Herausforderungen im Sozialsicherungssystem vom Hier und Jetzt müssen finanziert werden. Das wird schuldenfinanziert in die Zukunft geschoben. Ich glaube schon, dass auch für diese gegenwärtigen Herausforderungen der Kapitalmarkt eine ganz entscheidende Rolle spielen kann.

Inwiefern? – Boschan: Zum Beispiel in der Anwendung jahrzehntelanger und erprobter Modelle bei der staatlichen Vorsorge, etwa wie bei den Schweden, den Niederländern oder Dänen. Wir wenden derzeit 13,7 Prozent des Budgets für Pensionen auf, das ist unfassbar. Der europäische Durchschnitt liegt bei elf Prozent. Schweden, die Niederlande und Dänemark rangieren zwischen sieben und neun Prozent. Wir haben ein sehr teures System. Aber das System muss auch bessere Ergebnisse bringen, und das tut es eben nicht. In Schweden werden derzeit 2,5 Prozent aus einem Umlageverfahren in den Kapitalmarkt orientiert. Das wurde vor 25 oder 30 Jahren eingeführt, übrigens immer durch sozialdemokratische Regierungen.

Es besteht überhaupt kein Anlass zu sagen, unser Pensionssystem ist irgendwie gefährdet. Im Pensionsbereich haben wir jetzt aufgrund der Krisen und der Demografie für zehn Jahre Finanzierungsprobleme. Danach sind die Pensionsausgaben flach bei 14 bis 14,5 oder manchmal 15 Prozent des BIPs.
Markus Marterbauer
Finanzminister

Sind das Gedanken, die Sie mittragen könnten, Herr Marterbauer, etwa wie in den Niederlanden das Cappuccino-System? – Marterbauer: Also einen Mix in der Pensionsversicherung, den wir jetzt auch schon haben, halte ich für sinnvoll. Ich bin ein großer Anhänger des Umlageverfahrens. Es hat uns über Jahrzehnte hervorragende Dienste geleistet. Es hat den Wohlstand massiv erhöht, gerade in der älteren Bevölkerung. Es wurde später über die Jahre die zweite Säule aufgebaut.

Die zweite Säule ist aber nur für 23 Prozent der Arbeitnehmer da. – Marterbauer: Die zweite Säule als gute Ergänzung könnte man durchaus weiter ausbauen. Wir diskutieren jetzt über diesen Generalpensionskassenvertrag, da bin ich sehr aufgeschlossen dafür. Ich glaube, dass in Österreich im internationalen Vergleich ein sehr gutes Modell der zweiten Säule entwickelt wurde. Eben auch weil es aus der Sozialpartnerschaft kam.

Wären Beiträge des Arbeitnehmers vom Bruttoeinkommen möglich? – Marterbauer: Ich glaube, dass es nicht um zusätzliche Anreize geht. Vor allem weil wir in Österreich ein System haben, das nicht die Eigenbeiträge, sondern die daraus resultierenden Pensionen begünstigt. Mein Plädoyer in dieser Zeit ist, dass der Staat nicht groß durch Steuerbegünstigungen oder durch irgendwelche Subventionen Beiträge leisten kann. Man muss schauen, dass das Vertrauen in das System da ist, dass die Regulierungen vernünftig sind. Damit wird es auch attraktiver.

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"Ich bin ein großer Anhänger des Umlageverfahrens. Es hat uns über Jahrzehnte hervorragende Dienste geleistet", sagt Markus Marterbauer.

Dieser Wunsch ist nachvollziehbar. Aber die Demografie macht Probleme für die staatliche Pension. Man braucht zur Finanzierung Wirtschaftswachstum, das kann man nicht planen. Die Dringlichkeit ist dramatisch, oder? – Marterbauer: Es besteht überhaupt kein Anlass zu sagen, unser Pensionssystem ist irgendwie gefährdet. Alle Langfristprognosen sagen, dass wir im Pflege- und Gesundheitsbereich erhebliche Herausforderungen haben. Aber die werden wir auch bewältigen. Im Pensionsbereich haben wir jetzt aufgrund der Krisen und der Demografie für zehn Jahre Finanzierungsprobleme. Danach sind die Pensionsausgaben flach bei 14 bis 14,5 oder manchmal 15 Prozent des BIPs. Das heißt nicht, dass wir nicht Reformen brauchen, um das Pensionssystem zu sichern. Aber es ist ein sicheres System, das ergänzt werden soll. Zumindest im Bereich der zweiten Säule. Bei privaten Pensionsvorsorgen bin ich ein bisschen skeptischer. Weil einige staatliche Interventionsbereiche sind bei der dritten Säule gewaltig in die Hose gegangen.

Sie reden von der staatlich geförderten Zukunftsvorsorge, die 2003 eingeführt wurde? – Marterbauer: Ja, das war im Wesentlichen Kapitalvernichtung, die steuerlich subventioniert war.

Das Pensionssystem ist mit Abstand die größte Budgetposition, und die Bewegungsspielräume, die Sie sich budgetär wünschen, werden dadurch enger."
Christoph Boschan

Die Kapitalgarantie war der Hemmschuh. – Boschan: Ich denke, wir stehen schon vor Riesenherausforderungen, auch in der Pension, auch in Österreich.

Marterbauer: Aber worin bestehen die?

Boschan: Der Budgetposten ist einfach zu hoch. Das sind ja Mittel, die man besser verwenden könnte.

Marterbauer: Das ist aber ein Drittel der Bevölkerung, denen wir damit ihren Lebensstandard sichern.

Boschan: Ich habe auch mit großer Sympathie Ihre Budgetrede verfolgt, weil ich eine gewisse Skepsis vor zu großer Staatsschuld und zu großem daraus resultierendem Schuldendienst durchgehört habe. Und nun ist aber gerade das Pensionssystem der zentrale Verursacher. Es ist mit Abstand die größte Budgetposition, und die Bewegungsspielräume, die Sie sich budgetär wünschen, werden dadurch enger. Wir sind bei den Schulden nah beieinander, aber ich erkenne da einen leichten Widerspruch. Es geht einfach: kleinste Teile als Ergänzung an den Kapitalmarkt, meinetwegen auch mit staatlicher Fazilität – übrigens machen das die Schweden hervorragend – mit geringsten Verwaltungskosten im niedrigen zweistelligen Basispunktebereich.

Was halten Sie vom schwedischen Modell, Herr Marterbauer? – Marterbauer: Das System ist interessant. Das schwedische Modell der Kapitalmarktfinanzierung wurde 1945 eingerichtet. Den schwedischen Kapitalstock gab es damals schon. Der österreichische war null. Daran ist zu ermessen, wie sich die beiden Systeme entwickelt haben. In Schweden war das immer ein Teil des Systems, auch mit starkem Gewerkschaftseinfluss. Das war sehr hilfreich. Es ist nicht ganz so, dass das alles super läuft, aber es ist grundsätzlich ein interessantes System über die Betriebspensionen. Etwas Ähnliches haben wir in der zweiten Säule. Und wir werden das in diese Richtung auch ausbauen.

Boschan: Das schwedische System in seiner heutigen Fassung ist ein Ergebnis der letzten 30 Jahre. Auch das Schweizer Modell kann man sich immer anschauen als Blueprint. Was aber völlig zu kurz kommt, ist der finanziell gebildete selbstermächtigte Bürger, der eben nicht auf ein staatlich fazilitiertes Konto an­gewiesen ist, sondern der die Freiheitsgrade bekommt, selbst zu agieren. Und da ist Österreich spitze in der Diskriminierung. Es gibt eine dramatische Steuereskalation entlang der realen Investitionskette der Bürgerinnen und Bürger. Und ich glaube, da muss man schon eine Erleichterung oder zumindest eine Angleichung an das europäische Normal anvisieren.

Marterbauer: Da bin ich sehr skeptisch. Es gibt dauernd Doppelbesteuerungen. Das kennt jeder. Ich habe mir heute Mittag ein Salzstangerl gekauft, das habe ich aus meinem Einkommen bezahlt, das bereits versteuert wurde. Ich sehe keinen Anlass, wirklich etwas zu ändern. Die Kapitalertragssteuer wird aus einem zusätzlichen Einkommen gezahlt, das neu entstanden ist. Man muss sehr aufpassen, weil wir das Sparverhalten der Bürgerinnen und Bürger kennen. Die untere Hälfte spart praktisch nicht, braucht es auch nicht notwendigerweise, weil es ein Umlageverfahren für die Pension gibt. Menschen leben vielleicht in einem geförderten Wohnbau. Es sparen im Wesentlichen die obersten Einkommensgruppen. Und wenn ich jetzt solche Steuerbegünstigungen mache, müsste ich mich als Finanzminister fragen lassen, warum machst du Steuerbegünstigungen für die obersten Einkommensgruppen? Und ich hätte keine Antwort.

Boschan: Dann machen Sie doch eine progressive oder degressive Regelung. Je nachdem, was passt. Dann bringen Sie den Gedanken doch genau unter. Einkommen bis zu einer bestimmten Grenze zahlen fünf Prozent, die nächsten zehn Prozent und die nächsten 20 Prozent. Aber es wäre immer noch wettbewerbsfähig und unter dem europäischen Durchschnitt.

Marterbauer: Ich denke, wir sollten die bestehenden Instrumente weiterentwickeln, das Umlageverfahren finanziell absichern, auch im Moment die Finanzierbarkeit des Pensionssystems sichern, darüber hinaus würde ich eigentlich nicht wirklich gehen wollen. Aber wir brauchen auch eine Reihe von weiteren Reformen in der zweiten Säule. Da kann ich mir auch durchaus vorstellen, dass es da und dort für Geringverdiener Möglichkeiten gibt, denen dort hineinzuhelfen.

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"Was aber völlig zu kurz kommt, ist der finanziell gebildete selbstermächtigte Bürger. Und da ist Österreich spitze in der Diskriminierung", sagt Christoph Boschan.

Österreichs Unternehmen leiden unter hohen Lohnstückkosten und hohen Energiekosten. Wie kann sich Österreich positionieren, dass die Wettbewerbsfähigkeit nicht verlorengeht? – Marterbauer: Wir haben eines der höchsten BIPs pro Kopf. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Standort. Ich sehe zwei Möglichkeiten, und das ist auch die Richtung, in die die Regierung gehen will. Zum einen müssen wir bei den Energiekosten was machen. Da geht es vor allem darum, billigen Strom zur Verfügung zu stellen. Das ist eines der zentralen Elemente, um eine wettbewerbsfähige Indus­trie langfristig zu generieren. Auf der Erzeugungsseite und auf der Netzseite und überall müssen wir viel investieren. Das haben wir auch vor. Außerdem brauchen wir eine Produktivitätsstrategie, die neben billigem Strom vorsieht, die Digitalisierungsinvestitionen massiv zu verstärken. Und die Arbeitsmarktpolitik muss viel aktiver betrieben werden.

Es gibt dauernd Doppelbesteuerungen. Das kennt jeder. Ich habe mir heute Mittag ein Salzstangerl gekauft, das habe ich aus meinem Einkommen bezahlt, das bereits versteuert wurde. Ich sehe keinen Anlass, wirklich etwas zu ändern.
Markus Marterbauer

Wie gelingt das? – Marterbauer: Eine In­stitution, die Arbeitskräfte vermittelt und qualifiziert, ist das AMS. Welche Arbeitskräfte werden vermittelt? Die Arbeitslosen. Warum nicht die Niedriglohnbeschäftigten? Davon gibt es gleich viele wie Arbeitslose. Die müssten wir vermitteln und qualifizieren. Wir haben ein enormes Problem, einen Strukturwandel aus dem Arbeitsmarkt zu fördern. Da brauchen wir Institutionen, da braucht man den Willen, das zu tun. Diese Produktivitätsstrategie halte ich für entscheidend.

Sie haben gesagt, dass Energie billiger werden muss. Heißt das, dass der Staat zuschießt? Oder kommt das Geld aus einer wundersamen Quelle? – Marterbauer: Es ist wirklich wundersam, weil wir erneuerbare Energiequellen haben, die praktisch gratis sind. Ich sage es jetzt überspitzt, aber der Wind kostet nichts, die Sonne scheint von selbst und die Wasserkraft rinnt bei uns. Wir haben Potenzial bei Pumpspeicherkraftwerken, was sich auch betriebswirtschaftlich innerhalb weniger Jahre rechnet. Auf dem Weg zu billigem Strom muss man nur investieren.

Boschan: Wir sind Teileigentümer einer Strombörse, da sehe ich vieles völlig anders. Solange die Transition nicht da ist, ist es das teuerste System. Und man muss den Standort ehrlich bewerten, gerade in Hinblick auf die geografische und die soziokulturelle Peer-Group. Und das sind Bayern, Baden-Württemberg, Norditalien und die Schweiz. Und da weiß ich nicht, ob Ihre BIP-pro-Kopf-Rechnung und Produktivitätsrechnung so aufgeht. Da zeigen sich Defizite, an denen wir arbeiten sollten. Wo ich mich anschließen kann, ist, dass die Umsetzung nur durch Effizienz, Effektivität und Innovation gelingt. Innovationsfinanzierung ist per definitionem die Eigenkapitalfinanzierung. Das geht nicht über Schulden. Wer auf Innovation als Rettung unserer Demografie und der Refinanzierung des Sozialstaats setzt, muss unbedingt Eigenkapital-Investments mitdenken. Nur über Kredit geht es nicht.

Marterbauer: Ich habe nichts dagegen, wenn Firmen mehr Eigenkapital haben. Das freut mich. Die Industrie hat sich in den letzten 20 Jahren im Wesentlichen aus der Liquidität finanziert. Die haben so super verdient, dass sie alle Investitionen aus dem Cashflow finanziert haben. Meine Sorge bei zu starker Kapitalmarktfinanzierung ist, dass der Druck auf die Ausschüttungen enorm steigt. Und das macht Unternehmen weniger resilient. Wenn man zu viel ausschüttet, hat man weniger Spielraum und ist weniger resilient. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn die Indus­trie sagt, dass die Personalkosten zu hoch sind, während sie gleichzeitig die Hälfte ihrer Personalkosten an ihre Eigentümer ausgeschüttet haben.

Ich habe nichts dagegen, wenn Firmen mehr Eigenkapital haben. Das freut mich. Die Industrie hat in den letzten 20 Jahren so super verdient, dass sie alle Investitionen aus dem Cashflow finanziert haben.
Markus Marterbauer

Die Investoren nehmen auch ein Risiko. – Marterbauer: Ja, aber ob das so hoch entlohnt sein muss, muss man sich schon fragen. Unsere Fachkräfte nehmen auch ein großes Risiko, sie können gekündigt werden. Und dann haben sie kein Einkommen mehr. Das ist ein viel größeres Risiko als jenes der Kapitaleigner, die ein bisschen weniger Kapitaleinkommen haben. Und ich sehe mich hier als Vertreter jener, die die Arbeitsleistung einbringen in unsere Wirtschaft. Weil sie das Rückgrat unserer Wirtschaft sind.

Boschan: Ich kann zu den letzten Sätzen nur einen Haken machen. Wir sind ein höchst spezialisierter Betrieb. Aber wenn meine Emittenten hier säßen, dann weiß ich, dass natürlich ein großes Raunen durch den Saal gegangen wäre bei der Cashflow-Hypothese. Die ist natürlich nicht zutreffend. Bei der Stärkung der Eigenkapitalbenutzung sind wir gar nicht weit auseinander. Vielleicht findet man einen Aufschluss zum europäischen Normal. Mir fällt kein anderes so hochentwickeltes, reiches, wohlhabendes und erfolgreiches Land ein, das die Möglichkeiten des Kapitalmarkts so wenig nützt wie Österreich.

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"Es gibt keine Entbürokratisierung, es gibt nicht einmal eine Verlangsamung in unserem Bereich. Es geht ja nicht nur um die Menge der Regulierung, sondern um die Art der Regulierung. Fundamentale Prinzipien, auf denen wir die Union gebaut haben, wie Subsidiarität wurden völlig über Bord geworfen", sagt Christoph Boschan zu Finanzminister Markus Marterbauer.

Im Regierungsprogramm wird eine Bürokratiebremse versprochen. Gilt das auch für den Kapitalmarkt? – Marterbauer: Die Regulierung ist ganz entscheidend. Immer, wenn Kapitalmärkte gut reguliert waren, haben sie einen wichtigen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung geleistet. Wenn sie schlecht reguliert waren, hat es immer zu einem ökonomischen Absturz geführt. Es gibt leider zu viele Beispiele, wo die Regulierung schlecht war.

Würden Sie sagen, dass die Regulierung jetzt schlecht ist? – Marterbauer: Insgesamt ist der Markt ganz gut reguliert und funktioniert deshalb auch ganz gut.

Boschan: Es gibt keine Entbürokratisierung, es gibt nicht einmal eine Verlangsamung in unserem Bereich. Oft ersetzen zwei neue umfangreichere Regelwerke ein abgeschafftes Regelwerk. Das ist eine große Tragik. Ich bin jetzt fast seit 30 Jahren im Geschäft. Der europäische Kapitalmarkt hat sich in keiner Dimen­sion substanziell entwickelt. Egal, was man nimmt, Aktionärsgruppen, BIP pro Kopf, Equity, Eigenkapital versus Schuldenfinanzierung. Aber die Regulierung hat sich wahrscheinlich verzwanzigfacht. Ich habe deswegen eine ganz einfache Frage: Was ist hier das Konzept?

Marterbauer: Generell will die Bundesregierung unnötige Regulierungen abschaffen. Aber man muss sich zuerst anschauen, was nötig ist und was unnötig. Das erfordert erheblich Zeit und bringt Aufwand. Die Börsen sind relativ klar und durchaus streng reguliert. In anderen Bereichen des Kapitalmarkts oder wenn man Finanzmärkte insgesamt hernimmt, gibt es mit Sicherheit Regulierungsbedarf. Insbesondere wurde die Aufsicht massiv verstärkt. Das halte ich für wichtig. Wenn die Aufsicht gut geregelt ist, muss man auch nicht jedes Detail regeln.

Boschan: Es geht ja nicht nur um die Menge der Regulierung, sondern um die Art der Regulierung. Fundamentale Prinzipien, auf denen wir die Union gebaut haben, wie Subsidiarität wurden völlig über Bord geworfen. Meine Erwartungshaltung als Akteur des Finanzmarkts ist, dass nationale Aufsichten und supranationale Aufsichten natürlich kommunizierende Röhren sind. Also wenn ich da massiv ein zentralistisches System errichte, wäre die Erwartungshaltung, dass es ein gewisses Absinken auf nationaler Ebene gibt.

Herr Marterbauer, der europäische Kapitalmarkt hat sich in keiner Dimen­sion substanziell entwickelt. Aber die Regulierung hat sich wahrscheinlich verzwanzigfacht. Ich habe deswegen eine ganz einfache Frage: Was ist hier das Konzept?
Christoph Boschan
Chef der Wiener Börse

Wie könnte ein Aufeinanderzugehen aussehen? Gibt es da Ideen? – Marterbauer: Man muss sicher auf der Expertinnen-Ebene den Austausch führen und auch der Frage nachgehen, was unnötige Regulierungen sind und was nicht.

Boschan: Ich glaube, dass das tatsächlich ein guter Ansatz ist. So durften wir im Rahmen des Empfangs im Finanzministerium unsere lange Liste österreichischer Sonderregelungen vorlegen, an denen unbedingt gearbeitet werden muss. Das betrifft Geschwindigkeit, Art und Weise einer möglichen und schnellen Kapitalerhöhung etwa, bis hin zu Sondervorschriften bei den Berichtspflichten bei Going Public und Being Public.

Vita Christoph Boschan
Seit September 2016 ist der gebürtige Berliner, Jahrgang 1978, mit Leidenschaft Chef der Börsengruppe Wien und Prag. Der gelernte Wertpapierhändler und Kunstinteressierte bringt die Dinge gern auf den Punkt. Sein Steckenpferd sind die Themen Regulierung und Finanzbildung: „Es geht vor allem darum, Wette, Spekulation und Investition auseinanderhalten zu können", sagt Boschan

Noch ein Schlagwort: „Finanzbildung“. Ist sie nur für Schüler wichtig? Eigentlich müsste man nach Aussagen in der Vergangenheit vor allem Politiker in Finanzen bilden. – Marterbauer: Immer wenn ich im Parlament rede, mache ich Finanzbildung (lacht). Unsere Finanzbildungsstrategie ist tatsächlich sehr stark auf Schulen ausgerichtet. Bei Verschuldung haben wir die größten Probleme bei Kindern und Jugendlichen. Wenn ich mit 20 schon so verschuldet bin, dass ich für zehn Jahre nicht mehr beweglich bin, hat niemand was davon. Tatsächlich ist es so, dass das gesamte Weiterbildungssystem in Österreich sehr schlecht ist, gerade im Vergleich mit den skandinavischen Ländern. Und in dem Sinn kann ich der Idee schon einiges abgewinnen, dass man auch in diesem Bereich auf die Weiterbildung der Bevölkerung abzielt. Bei der Finanzbildung ist das prioritäre Thema für mich, Leute über die enormen Risiken aufzuklären, die mit Verschuldung einhergehen.

Boschan: Absolut richtig. Und es geht vor allem darum, Wette, Spekulation und Investition auseinanderhalten zu können. Ich würde mir wünschen, dass Schülerinnen und Schüler bis zum Schulabgang mit Schulden umgehen können und eine Wette von der Spekulation und der Investition unterscheiden können. Sie sollten in der Lage sein, mit Selbstbewusstsein aufzutreten und ihrem Finanzberater mit drei Fragen entgegenzutreten. Was kostet’s? Was bringt’s? Was sind die damit verbundenen Risiken? Bildung ist der beste Anlegerschutz.

Vita Markus Marterbauer
Der in Schweden geborene Österreicher (60) fühlt sich sichtlich wohl in seiner neuen Rolle als Finanzminister, die er seit 3. März 2025 bekleidet. Davor war er Chefökonom der Arbeiterkammer. Incentivierungen jeglicher Art steht er „skeptisch“ gegenüber: „Es wird völlig überschätzt, dass man irgendwelche steuer­lichen Anreize brauchen würde“, sagt Marterbauer, der das Pensionssystem in Österreich nicht gefährdet sieht.

Wie sichern Sie persönlich Ihr Erspartes gegen die Inflation ab? – Boschan: Nicht durch Spekulation, nicht durch Wette, auch erst recht nicht durch Kredite, sondern durch Investitionen. Und zwar durch Sachwertinvestitionen. Die Aktienanlage ist langfristig die sicherste und rendite­trächtigste Anlage. Sie schlägt alle Alternativen, die zur Verfügung stehen – den Immobilienmarkt, Anleihen, auch das staatliche Sozialsystem – um mindestens das Doppelte. So einfach ist das.

Marterbauer: Ich bin kein besonderer Anleger oder Sparer, ich zahle seit meinen Wifo- und AK-Zeiten in die zweite Pensionssäule ein. Sonst bin ich ein Sparer, und zwar überwiegend in Bundesschatz.at. Ich habe keine Aktien, aber das übernimmt ohnehin meine betriebliche Pensionskasse. —

Ingrid Krawarik

Autor 1

Ingrid Krawarik

Chefredaktion

Robert Winter

Autor 2

Robert Winter

Finanzjournalist

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