Megainvestments: Kernfusion soll die Energiewende beschleunigen
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In bester Münchner Tradition wurde zum Feiern der Finanzierungsrunde ein Fass angestochen – Grund dafür gab es genug. Letztlich sammelte das Münchener Kernfusion-Start-up Marvel Fusion 113 Millionen Euro ein. Mit dem Rekordinvestment für ein privates europäisches Projekt dieser Art werden nun die nächsten Schritte in Richtung CO2-freier Energieerzeugung gesetzt. Mit auf den Weg machen sich prominente Investoren wie EQT Ventures, der European Innovation Council Fund und die Siemens Energy AG. „Bis Anfang der 2030er-Jahre wollen wir einen Prototyp in Betrieb nehmen“, sagt CEO Moritz von der Linden gegenüber dem Börsianer Grün. Dann soll aus der Anlage mehr Energie kommen, als für die Fusion der Atomkerne hineingesteckt wird. Gelingt dies, wäre dies ein energiepolitischer Meilenstein, ein revolutionärer Durchbruch auf der nun fast 100-jährigen Suche nach dieser schier unerschöpflichen Energiequelle.
Magnetfusion: Heiße Plasmawolke wird mit starken Magnetfeldern in einem Reaktor, zum Beispiel Tokamak, eingeschlossen und kontrolliert.
Laserfusion: Hochenergetische Laser treffen winzige Brennstoffkügelchen, erzeugen Druck und Hitze – die Kerne verschmelzen explosionsartig.
So funktioniert Kernfusion
Vereinfacht ausgedrückt, funktioniert die Kernfusion über die Verschmelzung leichter Wasserstoffatomkerne unter extrem hohen Temperaturen und Drücken zu einem schwereren Kern, wobei enorme Mengen an Energie freigesetzt werden. Dieses Prinzip ahmt die Energieerzeugung der Sonne nach. Im Gegensatz zur Kernspaltung fallen weder langlebige radioaktive Abfälle an, noch gibt es die Gefahr einer Kernschmelze. Klingt gut, rein theoretisch!
Praktisch gesehen ist die Geschichte der Kernfusion eine der großen Ankündigungen, Probleme und Verzögerungen. Das zeigt der Blick nach Südfrankreich, zum größten Kernfusion- Forschungsprojekt unserer Zeit. In dem rein staatlich finanzierten Projekt arbeiten 35 Staaten zusammen. Man könnte es als gemeinsames Friedensprojekt bezeichnen – selbst Russland ist neben der EU, den USA, China und Indien immer noch mit an Bord. Jedes Land liefert dabei ein Stück zum Reaktor – aus Österreichs Forschung kommen etwa Materialien für Fusionsmagnete und Messinstrumente. In Deutschland ist beispielsweise das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) beteiligt. Dort werden Experimente mit dem Wendelstein 7-X Stellarator und der ASDEX Upgrade Tokamak durchgeführt, die wichtige Erkenntnisse für den Betrieb von ITER liefern sollen. Eigentlich sollte ITER bereits Ende 2025 starten. Nach Veröffentlichung von Dokumenten zum Baufortschritt ist mit einer Verzögerung bis zumindest 2028 zu rechnen. Der Börsianer Grün erfährt vom Münchner Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, dass der Reaktor erst 2034 erste Erkenntnisse liefern wird.

Funktioniert erst einmal der Versuchsreaktor ITER, dauert es noch geschätzt ein Jahrzehnt, bis man ein Kraftwerk auf die grüne Wiese stellen kann. Mit DEMO hat das Projekt immerhin schon einen Namen. „An der DEMO-Planung wird gerade gearbeitet. Wir rechnen damit, dass dieses Demonstrationskraftwerk um die Jahrhundertmitte Strom ins Netz einspeisen kann“, sagt IPP-Sprecher Frank Fleschner gegenüber dem Börsianer Grün. Das Problem: Die Zeit drängt angesichts des Klimawandels. Und so kamen private Projekte wie das eingangs erwähnte Münchener Start-up Marvel Fusion ins Spiel. Derzeit gibt es weltweit 45 privat finanzierte Kernfusionsunternehmen, etwa die Hälfte in den USA, der Rest verteilt sich auf Europa und Asien.
Private auf der Überholspur?
Diese könnten mit einem Lucky Punch Iter und Demo überholen. Der Vorteil dieses Wettstreits: Ähnlich wie beim Wettrennen um das erste Vakzin gegen das Coronavirus arbeiten die 45 Initiativen an sehr unterschiedlichen Ideen und Wegen der Kernfusion. „Dieser parallele Erkenntnisgewinn ist prinzipiell gut für die Industrie. Irgendwann wird sich das konsolidieren, und es werden sich einige wenige Designs durchsetzen. Aber im Moment ergibt das Ausprobieren Sinn“, sagt Sophia Spitzer, Chief of Staff bei Marvel Fusion, im Gespräch mit dem Börsianer Grün.
Während das ebenso in München ansässige IPP selbst mit den privaten Fusionsprojekten Commonwealth Fusion Systems, Proxima Fusion und Gauss Fusion kooperiert, hat Marvel Fusion seinen Partner in den USA gefunden. Denn anders als bei ITER und der Mehrheit der anderen Fusionsprojekte setzt Marvel Fusion nicht auf riesige Magnete, um die Heliumkerne zu verschmelzen, sondern auf Lasertechnologie. Diese Fusion mit Lasern stammt ursprünglich aus militärischer Nutzung und wurde an der US-amerikanischen National Ignition Facility (NIF) erfolgreich angewandt. Eine Partnerschaft mit der Colorado State University ergab sich aus einer früheren Zusammenarbeit, weil dort bereits für Experimentierzwecke geeignete Laser vorhanden sind. Darauf aufbauend, errichten die Universität und das Start-up eine neue hochmoderne Laseranlage, die von beiden genutzt wird.
Insofern sind die derzeit in Umlauf befindlichen Zahlen zum Fundraising der unterschiedlichen Projekte auch mit Vorsicht zu genießen. Magnetfusionsprojekte wie etwa Commonwealth Fusion Systems aus Massachusetts, das mit mehr als zwei Milliarden US-Dollar ausgestattet ist, oder auch das chinesische Projekt ENN mit etwa einer halben Milliarde US-Dollar Budget haben früher höhere Kosten verursacht, weil sie für jede Experimentphase einen eigenen Versuchsreaktor bauen mussten. Marvel Fusion kann hingegen bestehende Forschungslaser für die ersten Experimente nutzen, erklärt Spitzer. Darum gibt man sich in München auch zuversichtlich: Bereits 2035 soll ein Marvel-Kraftwerk konventionell nutzbar sein. Die Kompetenz und Erfahrung seiner Investoren wie Siemens Energy AG sollen den Bau dann beträchtlich erleichtern.
Wie hoch sind die Kosten?
Wird dieses Versprechen eingelöst, wären das freilich sonnige Aussichten. Bekanntlich ist die größte Herausforderung bei der Energiewende die Grundstabilität der Netze. Vereinfacht ausgedrückt, braucht es entsprechende Grundversorgung oder Speicher, um die Versorgung sicherzustellen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Rechnet man den günstigen Erzeugerpreis der Erneuerbaren plus die Speicher, komme man in etwa auf 70 Euro pro Megawattstunde, rechnet Spitzer vor. Dieser Preis ist für Projekte wie Marvel Fusion die Vorgabe. Der ist erreichbar, gibt sich Spitzer überzeugt. Ist ihr Kraftwerk erst einmal in Betrieb, soll es zwischen 300 und 800 Megawatt Leistung bringen, was etwa der Leistungsspanne zwischen einem Gas- und einem Kohlekraftwerk entsprechen würde. Insgesamt könnte die Kernfusion, so die Schätzungen, nicht nur die Grundlast der Netze sicherstellen, sondern auch bis zu 40 Prozent der im Netz benötigten Energie liefern. Das Potenzial wäre also groß.
Es bleibt zu hoffen, dass es auch zur Umsetzung kommt. Dabei erscheint eine zwar nicht ganz objektive Umfrage unter den internationalen Kernfusionsprojekten doch optimistisch: Von 37 Befragten glauben 26, dass bereits bis 2035 Energie aus der Kernfusion gewonnen wird. Nur einer glaubt, dass dies erst nach 2050 geschehen wird.
Der Artikel erschien zuerst im Printmagazin Börsianer Grün.

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